„… von alter Münchner Familienkultur erfüllt“
Von der großen Zeit des Hauses Hirth an der Loisach

Von Dr. Hiltrud Häntzschel

Das breit hingelagerte großzügige Haus in der Loisachstraße 59 in Grainau bei Garmisch aus dem Jahr 1896 gehörte Georg Hirth, einer einflussreichen Persönlichkeit der Münchner Kulturszene (1841 – 1916). Als studierter Volkswirt und Statistiker verwandte er seine Kompetenz rasch auf wissenschaftliches Publizieren und Verlegen, war Beiträger der Zeitschrift Die Gartenlaube, editierte statistische Jahrbücher. Mit seiner Heirat 1870 mit Else Knorr, der Tochter des Verlegers Julius Knorr, fand sein beruflicher Werdegang die entscheidende Richtung: zunächst als politischer Redakteur an der dem Schwiegervater gehörenden Augsburger Allgemeinen Zeitung. Bald verschob sich sein besonderes Interesse auf Kunst und Kunstgewerbe. Zahlreiche Publikationen zum Kunsthandwerk stammen aus seiner Feder; häufig aufgelegt ist der Prachtband Das deutsche Zimmer der Gothik und Renaissance, des Barock-, Rococo- und Zopfstils: Anregungen zu häuslicher Kunstpflege von 1886 und das 6-bändige Kulturgeschichliche Bilderbuch aus drei Jahrhunderten. 1883 ff. 1875 gründete er mit seinem Schwager Thomas Knorr zunächst die Druckereri Knorr & Hirth, wurde Teilhaber und wenig später fortschrittlich-liberalen Münchner Neusten Nachrichten, Vorläufer der Vorläufer der Süddeutschen Zeitung. Hirths Wohnsitz in der Luisenstraße, nahe den Propyläen, war Mittelpunkt der Münchner Künstlergesellschaft, Treffpunkt für Böcklin, Menzel, Klinger, Lenbach und viele andere. Mit seinem Verlag, der Druckerei, seinen Zeitungen und durch sein kulturpolitisches Engagement, das sich vehement gegen Zensur, gegen Obrigkeit, gegen den Einfluß der Kirche, für die Freiheit der Kunst einsetzte, prägte er das Münchner Kulturleben bis in den Ersten Weltkrieg hinein.
Nur folgerichtig war schon 1896 die Gründung einer künstlerisch-literarischen Zeitschrift (im selben Jahr wie die Erbauung des Hirth-Hauses in Grainau, zusammen mit dem Feuilletonredakteur der Münchner Neuesten Nachrichten Fritz von Ostini), die sich der gemäßigten künstlerischen Avantgarde verschrieb und nicht nur dem Jugendstil seinen Namen gab: Jugend. Illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben. Alles, was Rang und Namen hatte und für die zeitgenössische Kunst und Literatur aufgeschlossen war und zugleich einen gehobenen, kultivierten Lebensstil pflegte oder doch erträumte, fand hier seinen Publikationsort und seinen Lesestoff. Man kennt noch das Malerehepaar Charlotte Berend-Corinth und Lovis Corinth, Prominente wie Gustav Klimt, August von Kaulbach und Max Slevogt, Fidus, Karl Arnold und Joseph Hegenbarth. Heimatverbundene Autoren wie Ludwig Ganhofer wechseln mit Maxim Gorki, man kann Christian Morgenstern und Kurt Tucholsky lesen und noch 1936 Gedichte der bald ins Exil vertriebenen Nelly Sachs.
Nach Georg Hirths Tod bezog 1916 sein Sohn das Hirth-Haus in Grainau, der Kunsthistoriker Walther, mit seiner Frau Johanna und setzte dort die schon legendäre künstlerisch-gesellige Tradition des Elternhauses fort.
Durch die Inflation in den frühen zwanziger Jahren war sein geerbtes Vermögen zusammengeschmolzen. So gestalteten die beiden das Haus Hirth um zu einem exklusiven Gästehaus gehobenen Stils mit zwar zahlenden, aber doch handverlesenen Gästen. Der gute Geist des Hauses, so halten Besucher in ihren Erinnerungen fest, war Johanna Hirth. Sie stammte aus der kunstsinnigen Familie Preetorius aus Mainz, die Familie war befreundet mit dem Großherzog von Hessen und seiner Familie. Damit ergab sich eine enge Verbindung zu dessen englischen Verwandten der Hocharistokratie. In erster Ehe war Johanna Hirth mit einem Grafen verheiratet gewesen, der im Ersten Weltkrieg gefallen war. Ihr Bruder Emil Preetorius, Illustrator, Graphiker und Bühnenbilder und ebenfalls Beiträger in der Jugend, spielte eine bedeutende Rolle im Kulturleben in München und weit darüber hinaus, und er kam häufig nach Grainau. So traf sich in dieser von Besuchern schwärmerisch gepriesenen intimen und zauberhaften Atmosphäre eine internationale und wohl recht zahlungskräftige Gesellschaft aus Geburts- und Geldadel, aus Bildender Kunst, Musik und Wissenschaft. Die Ausstattung der Räume mit der geschmackssicheren wertvollen Sammlung von Möbeln, Bildern, Kunstgewerbe und besonders Porzellan, die Georg Hirth zusammengetragen hatte, beeindruckte alle Besucher des Hauses mit ihrer ganz besonderen Ausstrahlung. Es ist verblüffend, wie der Stil dieses Hauses sich deckte mit dem Ambiete, das die Hefte der Hirth’schen Zeitschrift Jugend vermittelten, in ihrem literarischen Teil, in ihren Abbildungen, auffällig auch in ihrem Inseratenteil, wo erlesene Parfums, Seifen und Kosmetika, Liköre und Champagner, die vornehmen Automobile von Mercedes und den bayerischen Motorenwerken, beworben wurden, selbst in Zeiten, da die Inflation dieser Leserschaft herb zu schaffen machte. Die Mode und die dargestellten Interieurs schwelgen mit wenigen Ausnahmen im Stil des gehobenen gediegenen eleganten Bürgertums – die Neue Sachlichkeit der frühen Zwanziger Jahre scheint hier noch in weiter Ferne.
Stets geschmackvoll mit edlem Geschirr und Silber gedeckte Tische waren selbstverständlich. Angesichts der großartigen Bilbiothek des Hauses konnte nie Langeweile aufkommen.
Und dann war da noch die Musik! Ein vielversprechender Komponist aus New York brachte junge Schuler mit, ein Pianist auß Russland kam mit seiner Gattin; aufgehende Sterne am Musikerhimmel, die Dirigenten Wilhelm Furtwengler und Erich Kleiber gehörten zu den Gästen und zogen prominente Kollegen nach sich.
Abwechslungsreichere und erholsamere Sommerwochen waren kaum vorstellbar! Großartige Bergwanderungen, ein frisches Bad im Eibsee, ein gelegentlicher Opernbesuch bei den Festspielen in München, Konzerte im nicht fernen Salzburg, all solche Genüsse wechselten mit köstlichen Diners der Hausherrin, mit geistreichen Gesprächen, anspruchsvollen Gesellschaftsspielen, musikalischen Darbietungen der Gäste ab, immer begleitet vom Charme der außergewöhnlichen Persönlichkeit der Hausherrin und dem letzten Champagner vor dem Zubettgehen, kredenzt vom Hausherrn und schufen „eine Stimmung, die jeden Tag zum Feiertag machte“, wie ein Besucher sich erinnert.
Man kannte die berühmte amerikanische Schauspielerin Katherine Cornell aus Verfilmungen von Shakespearestücken, die bei den Hirths Erholung von erschöpfenden Tourneen suchte. Die Schiegertochter Wilhelms II., Cecilie und der spätere englische Prinzgemahl Philip und in den letzten Jahren die legendäre taubblinde amerikanische Schriftstellerin (und allen deutschen Schulkindern als leuchtendes Vorbild an Willensstärke vermittelte) Helen Keller waren nach der unwirtlichen NS-Zeit, nach Krieg- und Besatzungszeit Gäste der Hirths. Und man erzählt sich in Grainau, dass auch Erich Kästner Gast im Haus Hirth war. Das halbe ‚doppelte Lottchen‘ Luise jedenfalls fand die Wanderung über die Berge und zurück vom Eibsee hinunter nach Grainau „so schön wie nichts auf der Welt.“